Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2003/058 - in: SOZ, Juni 2003

„Kerneuropa“ auf dem Kriegspfad

Die Auseinandersetzungen mit der Bush-Administration über den Irak-Kurs wurden von der französischen und der deutschen Regierung genutzt, um eigenen Ambitionen auf eine europäische Militärmacht Begründungen zu liefern.

Arno Neuber (02.06.2003)

Bereits nach dem 11. September 2001 wurde die Chance erkannt, ein Manko zu korrigieren, das Herfried Müller in der FR vom 9.11.02 so beschrieb: „Wahrscheinlich lässt sich die notorische Schwäche einer europäischen Außenpolitik der Europäischen Union auch mit dem Fehlen von Bedrohungsszenarien erklären, die der Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) entsprechenden Nachdruck verliehen hätten.“ Inzwischen dient das Feindbild Terrorismus unhinterfragt als Folie für weitreichende Pläne zur inneren und äußeren Militarisierung und zum Abbau demokratischer Rechte.

Fehlte noch die „Vision“. Die versuchten französische und deutsche Politiker ausgerechnet in den weltweiten Antikriegsaktionen vom 15. Februar des Jahres zu entdecken. „Am Samstag, dem 15. Februar 2003“, schreibt der ehemalige französische Wirtschafts- und Finanzminister Domique Strauss-Kahn in einem Beitrag für „Le Monde“ (FR, 11.03.03), „ist auf der Straße eine Nation geboren. Diese neue Nation ist die europäische Nation … Es fehlt ihr gewissermaßen nur noch eine politische Exekutive, die der Herausforderung würdig ist.“

Und in der gleichen Ausgabe der FR sekundieren die drei SPD-Fraktionsvize Gernot Erler, Michael Müller und Angelika Schwall-Düren: „Den Vereinigten Staaten droht eine Überdehnung als Folge einer Politik der Stärke … Wer jetzt nicht begreift, dass deshalb vieles auf Europa zuläuft (Joschka Fischer), der wird es nie begreifen … Dies geht nicht, ohne eine Gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).“

Am 29. April trafen sich in Brüssel die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg, um die Vision militärisch zu unterfüttern. Sie konkretisierten dabei die Idee eines militärischen Kerneuropa, wie sie zuvor bereits Joschka Fischer und sein französischer Amtskollege Dominique de Villepin propagiert hatten.

Sie wollen Druck auf den Europäischen Konvent machen, der bis zum Juni eine EU-Verfassung vorlegen soll.

In dieser Verfassung möchten die Brüsseler Vier das Konzept einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU)“ verankert wissen, die von Frankreich und Deutschland vorangetrieben wird, der sich andere EU-Staaten anschließen, die sie aber nicht aufhalten oder beeinflussen können. Dieses Prinzip des Vorpreschens soll unter der Bezeichnung „verstärkte Zusammenarbeit“ einzelner EU-Mitgliedsländer legitimiert werden.

Sie drängen darauf, die Einsatzszenarien für eine künftige EU-Interventionstruppe auch auf „anspruchsvollste Aufgaben“ auszudehnen. Die bisherigen sog. „Petersbergaufgaben“ gehen ihnen nicht weit genug.

Die vier Kerneuropa-Krieger haben auf ihrem Gipfel nicht nur allgemein den Ausbau ihrer militärischen Fähigkeiten vereinbart, sondern konkrete Erhöhungen „bei den Investitionen in die militärische Ausrüstung“.

Die deutsch-französische Brigade soll um belgische Kommandoeinheiten und luxemburgische Auflärungstruppen verstärkt werden und als schnelle Eingreiftruppe einer EU-Interventionsarmee dienen. Aufgabe laut Frankfurter Rundschau vom 30.04.03: „Als erste auf feindliches Gebiet vorzudringen.“ Bis Juni 2004 soll ein EU-Lufttransportkommando stehen, das Soldaten und Waffen an die Front bringen kann.

Vor allem aber soll ein EU-Planungs- und Kommandostab aufgebaut werden zur Durchführung „EU-geführter Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“. Das machte beträchtlichen Wind in London und Washington. Der Tagesordnungspunkt NATO-unabhängiges EU-Hauptquartier wurde deshalb kurz vor dem Treffen von der Tagesordnung genommen (FTD, 30.04.03).

Erst Ende des letzten Jahres war es mühsam gelungen, eine Vereinbarung zwischen EU und NATO zustande zu bringen, die es den EU-Kriegern ermöglicht, für ihre Einsätze auch NATO-Strukturen zu nutzen. Zwei Jahre lang war das durch ein Veto der Türkei verhindert worden.

Das Gipfel-Papier orientiert auf eine europäische Militärunion, die laut Chirac in der Perspektive zum „gleichgewichtigen Partner“ der USA werden soll.

Bereits vor dem Prager NATO-Gipfel im November des vergangenen Jahres hatte Fischer klar gemacht, das nicht daran gedacht ist, dass die EU „ein Friedenskorps aufstellt, sondern eine wirksame Eingreiftruppe“ (FTD, 20.11.02). Aus den USA waren Pläne bekannt geworden, die auf eine Arbeitsteilung hinausliefen, bei der die NATO mit ihrer neuen Eingreiftruppe „NATO Responce Force (NRF)“ für Kampfeinsätze zuständig sein sollte und die EU für die anschließenden Besatzungsaufgaben und begrenzte Militäreinsätze.

Seither wird um diese NATO-Einheit gerangelt. Im Herbst 2004 soll bereits die erste Stufe der Einsatzfähigkeit der 21.000-Mann-Truppe erreicht sein. Sie wird von den Strategen in Berlin und Paris als Projekt zur Sabotierung eigenständiger EU-Pläne gesehen. Struck stellte deshalb bereits im vergangenen November in einer Bundestagsrede klar: „Wir werden kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus erwächst, dass man dem Motto ‘Es gibt jetzt nur noch die NATO-Response-Force, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik vergessen wir’ folgt.“ Das Projekt der EU-Eingreiftruppe dürfe dabei „nicht gefährdet“ werden, erklärte er in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ am 21.11.02.

In Berlin bemüht man sich darum, dass Bundeswehreinheiten, die für die NRF der NATO bereitgestellt werden, auch für EU-Einsätze zur Verfügung stehen. Aus dem Pentagon wird offenbar auf das Gegenteil gedrängt, nämlich eine exclusive Abstellung spezieller Einheiten für die NATO, die zwischen Bereitschaft und Reserve wechseln sollen und daher für andere Kriegsjobs nicht mehr angefordert werden können.

Bis zum EU-Gipfel im Juni soll deren außenpolitischer Koordinator Solana Vorschläge für eine EU-Militärstrategie vorlegen. Bei einem Außenministertreffen Anfang Mai in Griechenland war schon klar, dass als Hauptpunkt in diesem Papier analog zur US-Linie die „Bekämpfung des internationalen Terrorismus“ stehen wird. Das ist das Einfallstor, mit dem auch die Erstschlagsstrategie hoffähig gemacht werden soll.

Indessen haben sich die EU-Außen- und „Verteidigungs“minister am 19. Mai in Brüssel getroffen, um den Stand des Aufbaus der EU-Eingreiftruppe zu bilanzieren. Bis zum Ende des Jahres soll die Truppe im Umfang von 60.000 Soldaten voll einsatzbereit sein. Seit Ende März hat die EU das Kommando über die Mazedonien-Truppe übernommen (Operation „Concordia“). Nächstes Jahr soll die SFOR-Einheit in Bosnien-Herzegowina durch die EU abgelöst werden. In Brüssel wurde sogar schon über die „Entsendung von EU-Friedenstruppen in den Kongo gesprochen“ (FAZ, 20.05.03).

Deutschland hat seinen Anspruch, die EU-Truppe zu führen nochmals unterstrichen und sein EU-Kontingent um 1.000 Soldaten auf 33.000 aufgestockt. Dazu gehören auch militärische „Spezialkräfte“, Tankflugzeuge und ein Versorgungsschiff.

Neue Vorschläge wurden auch für die Erhöhung der nationalen Rüstungsetats gemacht. So präsentierte Strucks italienischer Amtskollege Martino die Idee, die Rüstungskosten aus den sogenannten Maastricht-Kriterien für eine Obergrenze der Verschuldung herauszunehmen. Was als Knüppel gegen die sozialen Haushalte dient, ist also bei der Rüstung kein Tabu. Joschka Fischer hatte schon Mitte März im Berliner Kabinett für eine Erhöhung des Rüstungsetats zugunsten einer EU-Streitmacht geworben. „Wir müssen unsere militärische Kraft verstärken, um auch in diesem Sektor als Faktor ernst genommen zu werden“ (Spiegel 14/2003). Schröder legte in einem Zeit-Interview nach und sicherte zu, das man sich im Zusammenhang mit einer stärkeren EU-Militärpolitik „über die Ausrüstung der Bundeswehr und über ihre Finanzierung unterhalten müsse.“ Da wollten dann auch die Olivgrünen nicht hinten anstehen und ließen ihren Haushaltsexperten Alexander Bonde erklären: „Sollte es bei einer EU-Verteidigungspolitik zu konkreten Vorschlägen kommen, können wir mittelfristig über die Finanzierung reden“ (FTD, 28.03.03). Struck macht inzwischen ganz offen Dampf für eine Erhöhung des Rüstungsetats ab 2006 und weist dabei gerne auf die Höhe der US-Militärausgaben hin.

Europäisch begründet wird auch das Tempo, mit dem die Schröder-Fischer-Regierung an einer Entmachtung des Parlamentes bei Bundeswehreinsätzen hinarbeitet. So schnell wie möglich soll ein „Entsendegesetz“ her, das die Entscheidung über Militäreinsätze in die Verantwortung der Regierung legt. Das Parlament soll sich künftig mit einem Informations- oder Rückholrecht begnügen. Schließlich müssten Bundeswehreinheiten im Rahmen einer EU-Truppe schnell einsatzbereit sein. Deshalb sei die „Handlungsfreiheit der Regierung“ zu vergrößern (FTD, 26.03.03).

Der Autor ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung

Original-Url: http://members.aol.com/sozrst/0306141.htm

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