Dokumentation / in: uri avnery.de / ZNet Deutschland 03.05.2003

Der üble Wall

Den Bruchteil einer Sekunde lang war ich von panischer Angst erfüllt.

von: Uri Avnery / znet Deutschland / Dokumentation | Veröffentlicht am: 10. Mai 2003

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Den Bruchteil einer Sekunde lang war ich von panischer Angst erfüllt. Das schreckliche Monster, das auf mich zukam, war kaum mehr als fünf Meter von mir entfernt und bewegte sich auf mich zu, als ob ich nicht da wäre. Der riesige Bulldozer schob einen großen Haufen Erde und Geröll vor sich her. Der Fahrer, zwei Meter über mir, schien ein Teil dieser Maschine zu sein. Es war klar, nichts würde ihn aufhalten. Ich sprang im letzten Augenblick zur Seite. Vor ein paar Wochen war die amerikanische Friedensaktivistin Rachel Corrie in einer ähnlichen Situation; sie erwartete, dass der Fahrer anhält. Er tat es nicht, und sie wurde zu Tode zermalmt. Bei dieser Gelegenheit kam ich nicht zum Demonstrieren (wir werden dies heute tun), sondern um mich umzusehen. Im Olivenhain, ein paar Meter entfernt von den Zelten, die von den Dorfbewohnern von Mas’ha zusammen mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten aufgebaut waren, bereiteten drei Ungeheuer den Boden für die „Trennungsmauer“ vor. Staubwolken wirbelten auf und ohrenbetäubender Lärm umgab uns, sodass wir kaum mit einander reden konnten. Sie arbeiteten jeden Tag, sogar über Pessach, zwölf Stunden am Tag ohne Unterbrechung.

Die ganze israelische Öffentlichkeit ist für die „Trennungsmauer“. Sie weiß gar nicht, was sie da unterstützt. Man muss an Ort und Stelle kommen, um all die Folgen dieses Projektes zu verstehen. Zunächst muss unzweideutig gesagt werden: Diese Mauer hat nichts mit Sicherheit zu tun. Es wird der israelischen Öffentlichkeit als „Sicherheitszaun“ verkauft. Die Armee nennt es ein „Hindernis“. Die Öffentlichkeit, die sich natürlich nach Sicherheit sehnt, nimmt dies für bare Münze. Endlich wird etwas getan! Und tatsächlich sieht die Sache ganz einfach aus. Selbst die einfachste Person kann dies begreifen. Es sieht fast selbstverständlich aus: ein Palästinenser, der sich in Israel in die Luft jagen will, muss zuerst die 1967er-Grenze, die sog. Grüne Linie, überqueren. Wenn eine Mauer oder ein Zaun entlang der Grünen Linie gebaut wird, wird der Terrorist nicht in der Lage sein, zu kommen. Keine Angriffe mehr, keine Selbstmordattentäter. Aber die Logik sagt, wenn dies wirklich ein Sicherheitswall sein soll, dann wäre er direkt entlang der Grünen Linie gebaut worden. Alle Israelis (außer den Siedlern) würden dann auf der einen Seite (der westlichen) sein und alle Palästinenser auf der anderen. Die Linie sollte so gerade wie möglich und so kurz wie möglich sein; denn sie muss inspiziert, patrouilliert und verteidigt werden. Je kürzer sie ist, desto einfacher und billiger wird sie zu verteidigen sein. Das wäre die Logik der Sicherheit. Aber in Wirklichkeit ist der Wall, von kleinen Abschnitten abgesehen, nicht auf der Grünen Linie gebaut, auch nicht in gerader Linie. Im Gegenteil, er mäandriert wie ein Fluss, dreht und windet sich, nähert sich der Grünen Linie und entfernt sich von ihr. Das ist kein Zufall. Das Flussbett wird von der Natur diktiert. Das Wasser gehorcht den Gesetzen der Schwerkraft. Aber der Plan für den Wall berücksichtigt die Natur nicht. Die Bulldozer sind der Natur gegenüber gleichgültig; unbarmherzig durchschneiden sie sie. Was bestimmt diesen Plan? Wenn man neben dem Wall steht, wird die Antwort deutlich sichtbar. Die einzige Erwägung, die seinen Verlauf bestimmt, sind die Siedlungen. Der Wall windet sich wie eine Schlange nach einem einfachen Prinzip: Die meisten Siedlungen müssen auf der westlichen Seite des Walles liegen, um eines Tages Israel angeschlossen zu werden. Als ich auf einem Hügel stand, der vom Wall überquert werden soll, und in westlicher Richtung sah, erblickte ich unten Elkana, eine große jüdische Siedlung. Auf der östlichen Seite – nur ein paar Dutzend Meter entfernt – liegt das palästinensische Dorf Mas’ha. Das Dorf selbst steht auf der östlichen Seite, aber fast all seine Ländereien liegen auf der westlichen Seite. Der Wall wird das Dorf also von 98% seines Landes abschneiden, von Olivenhainen und Feldern, die sich bis zur Grünen Linie – etwa 7 km – bis nahe Kafr Kassem erstrecken.

Mas’ha ist ein großes Dorf, wie das Nachbardorf Bidia, wo Tausende von Israelis an jedem Samstag zum Einkaufen kamen. Auch Mas’ha war einst ein blühendes Dorf. Es hat eine große Industriezone, die nun vollkommen verlassen ist.

Man kann das Dorf nur zu Fuß auf einem steilen Pfad erreichen. Zu Beginn der Intifada blockierte die israelische Armee die Hauptstraße mit zwei Haufen von Erde und Felsen. Kein Fahrzeug kann passieren. „Zuerst zerstörten sie unsern Lebensunterhalt,“ sagt Anwar Amar, der Dorfälteste, bitter; „Jetzt kommen sie wieder und nehmen uns unser Land.“

Tatsächlich schwebt der faule Geruch des „Transfer“ über dem Wall. Seine Lage lässt ganze palästinensische Dörfer auf der westlichen Seite – gefangen zwischen dem Wall und der Grünen Linie. Die Bewohner können sich nicht bewegen, um Lebensunterhalt zu finden und können kaum noch atmen. Andere Dörfer, wie Mas’ha, werden auf der östlichen Seite des Walles bleiben, aber ihr Land, von dem sie lebten, wird auf der westlichen Seite sein. Es gibt Orte wie die Stadt Kalkilia, die wird fast vollständig von einer Wallschlinge umgeben, die nur eine kleine Öffnung zur Westbank hin offen lässt. Eine der Absichten des Walles ist zweifellos, das Leben der Einwohner zur Hölle zu machen, um sie nach und nach dahin zu bringen, wegzugehen. Es ist eine Art „schleichender Transfer“.

Wie der schreckliche Bulldozer, der Erde und Felsen vor sich herschiebt, so schiebt die Besatzung die palästinensische Bevölkerung immer weiter nach Osten, also hinaus.

Historiker können dies als einen kontinuierlichen Prozess erkennen, der vor 120 Jahren begann und der nicht einen Augenblick aufgehört hat. Es begann mit der Vertreibung der Fellachen vom Land, das von abwesenden Landbesitzern verkauft wurde, und setzte sich in der Nakba 1948 fort; die massive Landenteignung der Araber in Israel nach dem Krieg; die Vertreibungen während des 1967er-Krieges; die schleichende Räumung durch den Siedlungs- und Umgehungsstraßenbau während der Besatzungsjahre; und nun die Vertreibung durch den Wall. Die hebräischen Bulldozer rollen vorwärts. Es ist kein Zufall, dass Ariel Sharon den Spitznamen „Der Bulldozer“ hat. Der Wall von Mas’ha und Kalkilia, der sich bis in die Gilboa-Berge fortsetzt, ist nicht der einzige. Östlich davon ist schon ein zweiter in Planung. Er wird Ariel und die Kadumim-Siedlungen umgeben und 20 km in das palästinensische Land vordringen und damit fast die Mittelachse der Westbank, die Ramallah-Nablus-Straße, erreichen.

Selbst dies ist jedoch noch nicht das ganze Bild. Sharon plant den „Östlichen Wall“, der die Westbank vom Jordantal abschneidet. Wenn dies vollendet ist, wird die ganze Westbank zu einer Insel werden, die nur von israelischem Land umgeben ist, von allen Seiten abgeschnitten. Auch die südliche Westbank (Hebron und Bethlehem) wird von der nördlichen Westbank ( Ramallah, Nablus, Jenin), die auch in verschiedene Enklaven aufgeteilt wird, abgeschnitten. Diese Karte erinnert sehr an die Karte von Südafrika zur Apartheidzeit. Die rassistische Regierung schuf mehrere schwarze „Homelands“, auch „Bantustans“ genannt, angeblich selbstverwaltete Gebiete, deren schwarze Führer von der weißen Regierung bestimmt wurden. Jedes Bantustan war vollkommen vom Gebiet des rassistischen Staates umgeben, abgeschnitten vom Rest der Welt. Genau dies ist es, was Sharon im Sinne hat, wenn er über einen „palästinensischen Staat“ spricht. Er wird aus mehreren Enklaven bestehen, umgeben vom israelischen Gebiet, ohne eine Außengrenze mit Jordanien oder Ägypten. Sharon hat daran seit Jahrzehnten gearbeitet, Dutzende von Siedlungen gemäß dieser Karte errichtet.

Der Wall wird diesem Zweck dienen. Er hat nichts mit Sicherheit zu tun, er wird gewiss keinen Frieden bringen. Er wird nur noch mehr Hass und Blutvergießen erzeugen. Die bloße Idee, dass ein Hindernis aus Zement oder Stacheldraht den Hass beenden wird, ist lächerlich.

Die Arbeit der Bulldozer geht weiter – vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Sharon redet über den „Fahrplan“(Road Map) und schafft unterdessen neue Fakten auf dem Boden.

Aber dieser Wall hat noch eine tiefere Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass er so ungeheuer populär in Israel ist, von Sharon bis Mitzna und Beilin: Er befriedigt eine innere Notwendigkeit. In seinem Buch „Der Judenstaat“, dem Gründungsdokument des Zionismus, schrieb Theodor Herzl (1896) folgende Sätze: „Für Europa würden wir dort (in Palästina) ein Stück des Walles gegen Asien bilden. Wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“. Diese Idee, dass wir der Vorposten Europas sind und einen hohen Wall zwischen uns und asiatischer Barbarei – dh. den Arabern – benötigen, ist so in die ursprüngliche Vision eingebettet. Vielleicht hat es sogar noch tiefere Wurzeln. Als die Juden begannen, in Ghettos zu wohnen – bevor dies von außen bestimmt wurde – umgaben sie sich mit einer Mauer, um sich von der feindlichen Umwelt abzuschotten. Mauer und Trennung – als Garantie für Sicherheit – sind tief in das jüdisch kollektive Unterbewusstsein eingeprägt.

Aber wir als neue hebräische Gesellschaft in diesem Land wollen nicht in einem neuen jüdischen Ghetto leben. Wir suchen nicht Trennung, sondern das Gegenteil – Offenheit gegenüber der Region. Nicht „eine Villa im Dschungel“ wie Ehud Barak es nannte, nicht einen europäischen Vorposten gegen asiatische Barbarei, wie Herzl es gesehen hat, sondern eine offene Gesellschaft, die in Frieden lebt und in Partnerschaft mit den Nationen der Region gedeiht.

Dieser üble Wall ist nicht nur ein Instrument, um Palästinenser zu enteignen, nicht nur ein Terrorinstrument als Verteidigung gegen Terrorismus getarnt, nicht nur ein Instrument der Siedler, als Sicherheitsmaßnahme vorgetäuscht. Es ist vor allem ein Hindernis für Israel, ein Wall, der unsern Weg in eine Zukunft des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands blockiert.

Übersetzt von: Ellen Rohlfs