Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Pressebericht / In: Vorwärts (Zürich), 15. November 2002, 58. Jahrgang, Nr. 46

Florentiner Tagebuch

Florentiner Tagebuch / Vorwärts (CH) / Pressebericht / Dokumentation (10.01.2003)

6. NOVEMBER. Gespannt wartet Florenz auf die abendliche Großveranstaltung zur Eröffnung des Europäischen Sozialforums. Die Berlusconi-Regierung warnte in den vergangenen Wochen immer wieder vor den «Vandalen», welche die Kunststadt am Arno in Schutt und Asche legen werden. Die bekannte Schriftstellerin Oriana Fallaci vergleicht in einem offenen Brief der konservativen Tageszeitung Corriere della Serra die Teilnehmer des Forums sogar mit Nazihorden, die 1944 die Brücken des Arno in die Luft gesprengt haben. Der Filmregisseur Franco Zeffirelli, ein Vertreter der rechten Kulturelite in Italien, schlägt die Schriftstellerin deshalb als «Beschützerin von Florenz» sogar für eine Seligsprechung vor. Schon am Mittwoch ahnen viele, dass die Rechnung der römischen Zentralregierung nicht aufgeht. Dazu trägt vor allem die offensive Strategie der italienischen und europäischen Organisatoren des Sozialforums bei. Auf den großen Plätzen der Stadt verteilen mehrere hundert der insgesamt über tausend freiwilligen HelferInnen Zeitungen an die Bevölkerung, um sie über das Anliegen des ESF aufzuklären. Während ein Reisebus nach dem anderen nach Florenz rollt, fahren am Mittwochnachmittag mehrere tausend ESF-Besucher nach Livorno, um dort gegen das US-Militärcamp Darby zu demonstrieren. Die US-amerikanische Regierung hat sich bis ins Jahr 2050 die alleinige Verfügungsgewalt über militärische Aktionen vertraglich garantieren lassen – sehr zum Missfallen vieler BewohnerInnen der Toskana, die sich ebenfalls an der Demonstration beteiligten. Camp Darby liegt zudem mitten in einem Naturschutzgebiet, dem der Präsident der Region Toscana, Carlo Martini, den Namen «Park des Friedens» gegeben hat.

7. NOVEMBER. Um das Gesicht eines «anderen Europas» ging es auf einer der Konfernzen. Dort wurde von verschiedenen RednerInnen die Rolle der EU bei der Privatisierung der öffentlichen Dienste, der Steuerund Zinspolitik sowie ihre Politik in den internationalen Institutionen – der Weltbank, der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds – zur Sprache gebracht. Denise Cormann von der belgischen Nichtregierungsorganisation CADTM machte darauf aufmerksam, dass die Verschuldung der Dritten Welt nicht nur ökonomische, sondern auch politische Konsequenzen hat und die EU auch dort ein entscheidendes Wort mitredet. Zum Beispiel wenn der grundsätzlich zu begrüßende Schuldenerlass vor allem für politisches Wohlverhalten erteilt wird, wie jüngst in Pakistan. Die Regierung in Islamabad hatte ihr Land als Aufmarschgebiet der «Anti-Terror-Allianz» zur Verfügung gestellt. «Mit der Auslandsverschuldung werden die Länder des Südens politisch erpresst», resümiert Cormann. Deshalb müssten auch bei der Auslandsverschuldung die Bürger die Kontrolle über Entscheidungen bekommen. Das meinte auch Barry Coates von der NGO World Development Movement mit Blick auf die weltweite Privatisierung der öffentlichen Dienste. Doch eine Kontrolle des Dienstleistungssektors sei nur gegen die Interessen der Konzerne durchzusetzen. Ein Mittel dazu seien die Instrumente der Steuerpolitik, konstatierten einige ÖkonomInnen, von denen die Steuer auf grenzüberschreitende Finanztransaktionen, die sogenannte Tobin- Tax, nur eine unter vielen sei.

8. NOVEMBER. Auch viele FlorentinerInnen besuchen die Konferenzen des Sozialforums, auf denen sie sich ein Bild über die TeilnehmerInnen machen können. Am Freitagmorgen sprachen zum Beispiel eine Vertreterin der amerikanischen Friedensbewegung, die stellvertretende Vorsitzende von Attac-Frankreich, italienische und tschechische FriedensaktivistInnen, Tobias Pflüger von der Antimilitaristischen Initiative Tübingen und der britische Universitätsprofessor Alex Callinicos über die Rolle der «EU in der neuen Welt (Un)-Ordnung». Susan George traf mit ihrem Beitrag gegen einen Krieg im Irak und ihrer massiven Kritik an der Politik der USA die Stimmung der fast 4000 BesucherInnen in einem großen Konferenzsaal in der Festung da Basso. Andere Redner wie Alex Callinicos knüpften daran an, sprachen sich jedoch vehement gegen die Haltung aus, die EU könne sich zu einem internationalen Gegengewicht entwickeln. «Die EU ist ebenso eine imperialistische Macht, darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen», so der Universitätsprofessor. Tobias Pflüger untermauerte diese These und beschrieb den gerade stattfindenden Aufbau einer 60 000 Soldaten starken EU-Eingreiftruppe. «Bei dieser Truppe geht es um Angriff», erläuterte Pflüger.

9. NOVEMBER. Der geplante Krieg gegen den Irak war das eigentliche Hauptthema der Demonstration. «Es ist ganz deutlich: Europa will diesen schmutzigen Krieg nicht. Regierungen und Konzerne müssen mit diesem Europa rechnen», so einige Sprecher des Florentiner Sozialforums, «vielleicht können wir eine militärische Offensive der USA nicht verhindern, aber bestimmt die Unterstützung dieses Krieges in Europa». Auffallend war die Teilnahme der italienischen Rifondazione Comunista (PRC), und ihrer Jugendorganisation Giovani Comunisti. Mehrere tausend Fahnen der PRC wehten am Samstag im Wind der toskanischen Hauptstadt. Viele Mitglieder der PRC arbeiten in der «Bewegung der Bewegungen», wie das globalisierungskritische Spektrum in Italien genannt wird, seit die Partei der Option einer Mitte-Links-Regierung eine klare Absage erteilt hat. Ihr Stimmenanteil bei Umfragen nähert sich inzwischen der Zehn-Prozent-Marke. Mittlerweile scheinen sich auch weitere Parteien diesem politischen Kurs anzunähern. Aus Frankreich war eine Delegation der französischen KP gekommen, die bei den letzten Wahlen durch Parteien wie die Revolutionäre Kommunistische Liga (LCR) erheblich unter Druck geraten war und bei den letzten Wahlen enorme Stimmenverluste einstecken musste. Die Mitglieder der LCR arbeiten seit Jahren in den sozialen Bewegungen, während die französische KP bis im vergangenen Jahr als kleiner Koalitionspartner der «Sozialistischen Partei» ein eher instrumentelles Verhältnis zu den Bewegungen hatte.

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