in: Junge Welt, 09.11.2002

Strategiesuche in Florenz

Europäisches Sozialforum berät breites Spektrum von Themen. Widerstand gegen Irak-Krieg

von: Wolfgang Pomrehn / Junge Welt / Dokumentation / Pressebericht | Veröffentlicht am: 10. November 2002

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?Es gibt keine Rechte mehr, sondern nur noch Waren.? Mit dieser Aussage trifft Rossana Rossanda, die Grande Dame der italienischen Linken, den Nerv der 30 000 Teilnehmer des Europäischen Sozialforums, das noch bis Sonntag in Florenz tagt.
Aus allen Ecken Europas und des Mittelmeerraumes sind sie gekommen, um über den Kampf gegen den Abbau sozialer Rechte, über Neoliberalismus und Umweltzerstörung, über die Ausplünderung der Länder des Südens und die Privatisierung der öffentlichen Dienste in der EU zu diskutieren. Oder auch über die Weltschuldenkrise: ?Die von den G-7 1999 in Köln gestarteten Entschuldungsprogramme sind reine Augenwischerei?, so Denise Cormann aus Belgien auf einem der über hundert Podien. Die Länder der Dritten Welt würden immer tiefer in den Strudel aus Verschuldung, Elend und Hunger gezogen. Die Nichtregierungsorganisationen sollten sich daher lieber nicht in die entsprechenden Initiativen der G7 einbinden lassen, sondern weiter politischen Druck mobilisieren.

Damit sprach sie eine der wesentlichen Konfliktlinien an, die im wilden Zickzack durch die in Florenz versammelten sozialen Bewegungen verläuft: Soll man versuchen, die Institutionen der Globalisierung von innen heraus zu verändern, oder sie ablehnen? Als zum Beispiel Bernard Cassen von ATTAC Frankreich am Mittwoch auf einem Europatreffen der Globalisierungskritiker vorschlug, das Netzwerk solle einen eigenen Vorschlag für eine EU-Verfassung erarbeiten, biß er damit vor allem bei den Skandinaviern auf Granit. Aber nach Ansicht mancher Teilnehmer führt die Zuspitzung dieses prinzipiellen Konflikts ? reformieren oder generelle Ablehnung ? eher auf Abwege. Man solle sich lieber auf die Dinge konzentrieren, die man gemeinsam bekämpfen müsse, und für eine Konvergenz der reformistischen und antikapitalistischen Bewegungen sorgen, meinte ein Teilnehmer in einer der zahllosen Diskussionen.

Eine dieser zentralen Fragen ist sicherlich der drohende Krieg gegen den Irak, um den sich in der toskanischen Metropole derzeit viele Diskussionen drehen. Auch wenn die Regierung in Rom, wie Rossana Rossanda meint, bereits ihre Zustimmung zum Angriff der USA gegeben habe. ?Nach dem Wahlsieg der Republikaner bei den Parlamentswahlen?, erklärt Alex Callinicos von der University of York in Großbritannien, ?ist der Beginn des Krieges nur noch eine Frage der Zeit?. Die USA wollen, so Callinicos, den Zugriff auf sichere Ölquellen, um ihre Vormachtstellung abzusichern und das Öl gleichzeitig als Joker gegen Konkurrenten zum Beispiel in Westeuropa zu nutzen. Eine Stärkung der EU als Gegengewicht kommt für ihn aber nicht in Frage, da es sich dabei nur um einen anderen ?imperialistischen Machtblock? handeln würde.

Ähnlich sieht das Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen, der am Freitag vormittag auf dem gleichen Podium vor mehreren tausend Menschen sprach: ?Wir wollen keine Weltmacht USA, aber auch keine europäische Weltmacht und schon gar keine deutsche.? Pflüger wies vor allem auf die im Aufbau befindliche Interventionstruppe der EU hin, die 2003 einsatzbereit sein solle. Dem 60000 Mann starken Truppenverband werden auch 18000 deutsche Soldaten angehören.

Rossana Rossanda nutzte das Podium, das über ?Europa in der neuen Welt(un)ordnung? sprechen sollte, auch, um auf die bedrückende Situation der Flüchtlinge und Einwanderer hinzuweisen. Die Mauer, die die EU gegen diese Menschen errichtet habe, verstoße gegen die Menschenrechte. Für ihre Aufforderung, sich dem Irak-Krieg zu widersetzen, erntete sie unter den italienischen Teilnehmern stehende Ovationen.

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Original: http://www.jungewelt.de/2002/11-09/006.php