Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

in: Berliner Zeitung, 26.10.2002

Der lange Marsch

Sie lassen sich festnehmen, sie besetzen Büros, sie fahren nach Washington - wie in Amerika eine neue Friedensbewegung entsteht

Anja Reich / Berliner Zeitung / Dokumentation (26.10.2002)

NEW YORK, im Oktober. Als Max losgeht, ruft er seiner Mutter zu, er werde heute an einer Aktion teilnehmen. Er hat es eilig, seine Freunde warten auf ihn. Seine neuen Freunde. So nennt der Student der New York Universität die Mitglieder der Gruppe „Kein Blut für Öl“. Mit seinen alten Freunden hat er Baseball gespielt. Mit den neuen macht er Aktionen. „Was für eine Aktion denn?“, fragt seine Mutter. „Was in der Uno“, antwortet er. „Pass auf, dass sie dich nicht wieder einsperren“, ruft sie ihm hinterher. „Okay“, sagt Max.

Vierundzwanzig Stunden später steht der zweiundzwanzig Jahre alte Journalistikstudent Max Uhlenbeck vor dem Kriminalgericht, 100 Centre Street in Downtown Manhattan. Er ist angeklagt, die Sicherheitsbestimmungen im Uno-Hauptquartier verletzt zu haben. Max und seine Freunde hatten sich in der Haupthalle der Vereinten Nationen auf den Fußboden gesetzt, die Arme ineinander gehakt und gerufen: „Kein Krieg im Irak! Kein Krieg im Irak!“ Das war die Aktion. Sie wurden verhaftet und eine Nacht in Untersuchungshaft gesperrt. Die Richterin verlegt die Verhandlung auf Mitte Dezember. Max ist entlassen.

Draußen warten seine Freunde. Sie klatschen, umarmen ihn und halten die „New York Times“ hoch. Auf der Inlandseite steht ein zweispaltiger Bericht über die Anti-Bush-Demonstration. Mit einem Foto von der Festnahme. Max lacht. Er ist blass und hat kurze dunkle Haare, die nach allen Seiten abstehen. Er trägt Turnschuhe, ein hellblaues Hemd und entschuldigt sich, dass er sicher schlecht rieche, weil er im Gefängnis nicht duschen konnte. Er ist ein netter amerikanischer Junge. Ein Elite-Student, der Vorlesungen schwänzt, weil er für den Frieden kämpft.

Max Uhlenbeck ist in San Francisco geboren, seine Eltern sind Fotografen, als er zwei war, sind sie mit ihm nach Holland gezogen, elf Jahre später nach New York. Max sagt, dass die Medien in Europa kritischer berichten würden. Das gefalle ihm. Genauso wie die Demonstrationskultur. „Hier wirst du immer gleich eingesperrt, wenn du auf die Straße gehst.“ Am meisten gelernt habe er von seinem Professor für Medien. Der habe das amerikanische Fernsehen und die Presse analysiert, über Palästina geredet und erklärt, woher der Terror komme. „Das waren Sachen“, sagt er, „von denen ich noch nie gehört hatte.“

Dann hat Max Studenten getroffen, die so denken wie er. Seine neuen Freunde. Mit ihnen hat er T-Shirts bedruckt, Senatoren-Büros besetzt, ist nach Washington gefahren, um Straßen zu blockieren. Dort wurde er das erste Mal verhaftet. Sein Pflichtverteidiger warnte ihn, dass er auf seine Strafakte achten solle. Max sagt, dass der Anwalt auch gesagt habe, dass er ebenfalls gegen den Krieg sei. Und die Richterin habe ihn angelächelt. Das zählt.

Max hat dunkle Ringe unter den Augen, er würde gerne schlafen und duschen, aber er hat zu viel zu tun. Er muss vor der Uni Busfahrkarten für den Friedensmarsch in Washington verkaufen. Abends geht er zum Treffen seiner Friedensgruppe. Dann ist Trommelworkshop vor der Uno. Freitag kommt Dick Cheney in die Stadt, da müssen sie auch was machen. Trommeln oder Losungen rufen. Transparente hoch halten. Irgend so was. Sonnabend ist Demo in Washington. Sie werden immer mehr. Vor den Universitäten stehen Studenten und verteilen Aufkleber und Flugblätter. Nachts schreiben Kriegsgegner Losungen an die Mauern auf dem Campus.

Linke Schriftsteller erklären in Kirchen, warum es Bush nicht um Demokratie geht, sondern um Öl. In der New Yorker U-Bahn sind die Hinweisschilder: „Türen aufhalten verboten“ überklebt. „Kein Krieg im Irak“, steht jetzt da. Der Hollywoodstar Sean Penn hat für 53 000 Dollar eine Zeitungsseite der Washington Post gekauft, um darauf zu erklären, warum er gegen eine Irak-Invasion ist. In der 7th Avenue in Brooklyn sammeln Mitglieder einer Gruppe „Eltern für Frieden“ Unterschriften gegen Bush. Ein paar Straßen weiter hat jemand an die Fenster seines Hauses geschrieben: „Für Inspektionen. Gegen den Krieg.“

Vor einem Jahr hingen hier noch überall amerikanische Flaggen. Die Stimmung ist umgeschlagen. Manche sagen, in Amerika bilde sich derzeit eine Friedensbewegung, die größer und stärker sei als die im Vietnamkrieg. Margaret Groarke sagt, es sei zu früh, das einzuschätzen. „Aber ich habe gehört, dass es im Vietnamkrieg so angefangen hat. Genau so. Mit kleinen Treffen, Unterschriftensammlungen, Sit-Ins, Demonstrationen.“

Margaret Groarke ist Leiterin des Instituts für Friedensstudien am Manhattan College. Sie erzählt von Nachbarschaftsinitiativen, die sich nach dem 11. September gebildet haben, aus Sorge, Bush werde sich rächen und unschuldige Menschen töten. „Es ging um Afghanistan und um arabische Menschen in New York. Jetzt ist es Irak.“ Sie selbst gehört einer Friedensgruppe in der Bronx an und ermutigt ihre Studenten, statt zu Vorlesungen zu gehen gegen die Pläne der Bush-Regierung zu demonstrieren. „In solchen Zeiten kann man nicht so tun, als würde das Leben ganz normal weitergehen.“ Es sei wichtig, die Menschen aufzuklären: „Was ist der Islam? Worum geht es im Irak? Warum will Amerika Militäraktionen?“

Michael Schenker muss man nicht erst überzeugen, wie wichtig Demonstrationen sind. Er ist fünfundvierzig, hat mal in einem kleinen New Yorker Theater gespielt, aber eigentlich ist er Demonstrant von Beruf. Er hat schon gegen Rassendiskriminierungen in New York protestiert, gegen die Bebauung einer Rasenfläche vor seinem Haus und gegen Immobilienhaie. Im Moment kämpft er gegen den Krieg im Irak. Er trommelt mit Max für den Frieden und war bei der Menschenkette dabei. Ins UN-Gebäude ist er nicht mitgegangen. Er ist mit den Jahren ein bisschen vorsichtig geworden, er war schon oft im Gefängnis. Meist wurde er am nächsten Tag wieder entlassen. „Aber angenehm ist es da drin nicht.“
Er gibt Max und seinen Freunden lieber Hinweise. Dass eine Aktion praktisch wertlos ist, wenn kein Kamerateam dabei ist. Wie man bei Polizeibefragungen reagiert und dass es gut ist, wenn man vor einer Protestaktion gut frühstückt, weil die Verpflegung im New Yorker Untersuchungsgefängnis ziemlich schlecht ist. Das Haus in der Lower East Side, das er besetzt hat, gehört jetzt ihm und ein paar Freunden. Und Bush, vermutet er, hält auch nicht mehr lange durch. Spätestens wenn er merke, dass ihm die Wähler verloren gingen, gebe er auf. Schenker ist der Talisman der Kriegsgegner.

Der Barnard Hörsaal der Columbia Universität hat holzgetäfelte Wände, gepoltsterte Sitze und Säulen in der Mitte. Normalerweise halten hier gut bezahlte Professoren Vorträge. Aber an diesem Abend gibt es ein Teach In, eine Art Agitationsveranstaltung. Am Eingang steht ein Mädchen in engem T-Shirt. Sie verkauft Fahrkarten für den Friedensmarsch in Washington. Dreißig Dollar das Stück. Die Busse haben Toiletten und Fernseher in den Sitzen, sagt sie und lächelt, als verkaufe sie Kreuzfahrten. Es gibt auch „Kein Blut für Öl“-Aufkleber, drei Stück für fünfzig Cent, ein Buch über das Recht auf Abtreibung sowie „Staat und Revolution“ von Lenin. Aber das verkauft sich nicht so gut.

Vorne auf der Bühne sitzen vier Leute, die als Experten vorgestellt werden. Der erste heißt Danny Miller, ist Ende zwanzig und sagt, dass er gerade aus dem Irak komme, wo er Hilfsgüter verteilt habe. Danny Miller hat schulterlange Haare und einen Mittelscheitel und sagt, es sei wichtig, daran zu denken, dass im Irak Menschen leben. „Menschen wie wir.“ Er erzählt, wie einmal ein Iraker mit einer Kalaschnikow auf ihn zugerannt gekommen sei und sich bloß erkundigt habe, wie es George Michael gehe. Die Leute lachen. Der Hörsaal ist halb voll. Studenten in ausgefransten Jeans und Kinnbärten sind da. Ein paar Professoren. Hippies. Leute aus dem Viertel. Mitglieder von anderen Friedensgruppen. Ein paar schreiben mit, eine Frau filmt. Alles wirkt ein wenig unbeholfen.

Es ist die erste Veranstaltung dieser Art in der Columbia Universität. Es fängt alles erst an. „Habt ihr wirklich Illusionen, dass es Bush um Demokratie geht“, ruft jetzt ein Redner, der Mitglied einer sozialistischen Organisation ist. „Es geht ihm doch nur um Öl. Er will den Ölmarkt kontrollieren.“ Er bekommt Beifall. Der nächste sagt, es gebe überhaupt keine Beweise, dass Saddam Hussein irgendwas mit dem 11. September zu tun habe. „Wir müssen uns einmischen. Wenn wir jetzt anfangen, können wir den Krieg noch stoppen.“ „Was sollen wir machen?“, ruft ein Mann im Publikum. „Lernen, studieren. Guckt ins Internet, lest Bücher. Die Kongressmitglieder bekommen ihre Informationen auch nicht anders.“

Der Redner erzählt, dass sich überall Friedensgruppen bilden. Dass es Demonstrationen gebe. „20 000 waren im Central Park. 8 000 in San Francisco, 9 000 in Los Angeles. Die Bewegung wächst. Wir können den Krieg stoppen. Aber erwartet nicht, dass es über Nacht passiert.“ Jemand sagt, George Bush sei ein globaler Sniper. Er habe keine einzelne Waffe, sondern eine ganze Armee und man wisse nie, wo er als Nächstes angreife. Plötzlich geht das Licht aus. Der erste Redner ruft in die Dunkelheit: „Das passiert im Irak ständig. Die USA haben das irakische Elektrizitätssystem bombardiert.“ Die Leute schweigen.

Dann geht das Licht wieder an. In der Upper West Side fallen keine Bomben. Jemand hatte sich aus Versehen gegen den Schalter gelehnt. Zum Schluss gibt es gute Nachrichten. Fünfzig Busfahrkarten wurden allein heute Abend verkauft. Der Sniper ist gefasst, und das Wetter in Washington soll am Sonnabend auch gut werden. Am Anfang soll es nieseln, aber später, wenn zehntausende Amerikaner den größte Friedensmarsch seit dem Vietnamkrieg beginnen, soll die Sonne scheinen.

Original: http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/seite_3/.html/188004.html

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