Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

gekürzt und übersetzt in: Peace News 2447 June - August 2002 - (Peacenews.info)

Antimilitarismus in der (neuen) deutschen Friedens- und Antikriegsbewegung nach dem 11.September

oder: Hauptsache gegen diesen Krieg

Tobias Pflüger (01.06.2002)

1. Die (neue) deutsche Friedens- und Antikriegsbewegung nach dem 11.September

In Deutschland hat sich nach den brutalen Terroranschlägen in New York und Washington und verstärkt nach dem Beginn des Angriffskriegs von US-Truppen mit Hilfe von britischen Truppen gegen Afghanistan am 07. Oktober 2001 – wie in anderen europäischen Ländern – eine Antikriegs- und Friedensbewegung neu formiert. Nach dem Eintritt der Bundesregierung in den Krieg und dem Beschluss zum Einsatz der Bundeswehr am 07.11.2001 (Bundeskabinett) und 16.11.2001 (Bundestag) verstärkten sich die Aktivitäten der Antikriegs- und Friedensbewegung noch einmal etwas.

Die Zusammensetzung der neuen Antikriegs- und Friedensbewegung ist ganz interessant. Gruppen und Institutionen der bisherigen Friedens- und Antikriegsbewegung, die zumeist schon vor oder spätestens nach dem NATO-Angriff auf Jugoslawien im März 1999 entstanden sind, prägten auch diese neue Antikriegs- und Friedensbewegung. Die bundesweite Koordination übernahmen vor allem schon bestehende Gruppen, wie der in Kassel ansässige bundesweite Friedensratschlag (http://www.friedensratschlag.de) und mit ihm befreundete und verbündete Gruppen.

In vielen kleinen Städten und Gemeinden entstanden neue oder reaktivierte zum Teil sehr heterogene Friedensgruppen. In vielen kleinen Städten gab es ab dem 11.09. oder dem 07.10. manchmal täglich, manchmal wöchentlich Mahnwachen und/oder Demonstrationen.

In den Metropolen gab es zeitweilig mehrere politisch und altersmäßig unterschiedlich ausgeprägte Antikriegs- und Friedensgruppen. Diese bildeten sich auch an den bisherigen Friedens- und Antikriegsstrukturen vorbei aus. In bestimmten Städten wie Berlin bestehen diese bis heute fort.

Erstmals bildeten sich auch wieder berufsspezifische Friedens- und Antikriegsgruppen. Vor allem an einigen Universitäten und an Schulen gab es insbesondere nach dem Kriegsbeginn am 07.10.2001 Gruppen, die sich gegen den Krieg aussprachen und sich deutlich von der reinen unpolitischen (verordneten und tatsächlichen) Betroffenheit der ersten Tage nach dem 11. September unterschieden. Ein Teil dieser Gruppen besteht bis heute.

Die neue Qualität der Antikriegs- und Friedensbewegung seit dem 11. September 2001 besteht vor allem in zwei Aspekten:

A. In Städten auf dem Land bildeten sich neue oder reaktivierte kontinuierlich arbeitende Friedensgruppen, die nicht wie vor dem Jugoslawienkrieg 1999 eng mit Parteien der Regierungskoalition (SPD und Grüne) oder örtlichen Gewerkschaften verbunden waren. Eine Reihe dieser Gruppen agiert völlig unabhängig von den rot-grünen oder rot-grün nahen Strukturen. Diese Gruppen arbeiten seither kontinuierlich an Friedensthemen. Für eine funktionierende Friedens- und Antikriegsbewegung ist die kontinuierliche Arbeit ein ganz zentraler Aspekt.

B. Das Problem vieler Personen und Gruppen während des NATO-Jugoslawienkrieges 1999 – nämlich ihr fester Bezug zur neuen rot-grünen Bundesregierung besteht mit Beginn des Afghanistankrieges nicht mehr. Das Kapitel eines Positivbezuges zu rot-grün ist zum Glück endlich weitgehend abgeschlossen in der (neuen) deutschen Friedens- und Antikriegsbewegung nach dem 11.September.

2. Reformismus oder Systemopposition der Friedens- und Antikriegsbewegung?

Trotz dieser beiden positiven Entwicklungen sind dennoch die Forderungen vieler Friedens- und Antikriegsgruppen fast ausschließlich an die US-Regierung und die deutsche Bundesregierung gerichtet. Es wurden eine Reihe von Unterschriftensammlungen gestartet, die in den Kernforderungen Appelle an die Bundesregierung beinhalteten. „Machen Sie nicht mit bei diesem (US-)Krieg“. Appelle und Demonstrationen werden häufig direkten Aktionen vorgezogen.

Ich stelle fest, daß es einen speziellen reformistischen „Antiamerikanismus“ (gegen die USA als solches o.ä.) gibt, in Teilen des linksliberalen Milieus, im Umfeld und bei den Neogrünen, bei Sozialdemokrat/inn/en, auch in Teilen der Friedensbewegung. Dort gibt es die Position, daß im Gegensatz zur US-Politik noch etwas Gutes dran sei, an der Politik der EU oder Deutschlands. Daß es so etwas gäbe, wie gute Hegemonialmächte (EU und Deutschland) und schlechte, wie die USA.

Der große Teil der Friedensbewegung setzt dem aber eine scharfe Kritik sowohl an der Politik der US-Regierung als auch an bundesdeutschen Regierungen entgegen. Gruppen wie die Informationsstelle Militarisierung stehen in der Friedensbewegung dafür, eine klare Kritik zu formulieren, sowohl an der Kriegspolitik der US-Regierung, als auch an der rot-grünen deutschen Kriegspolitik.

Doch die Ansätze innerhalb der Friedensbewegung sind weitgehend reformistisch – insbesondere bei den großen Mitgliedsgruppen wie der IPPNW oder weitestgehend der DFG-VK. Innerhalb der Antikriegsbewegung gibt es aber auch Gruppen, die systemkritisch sind.

Innerhalb dieser systemkritischen Gruppen und innerhalb der gesamten Friedens- und insbesondere der Antikriegsbewegung sind aber wiederum solche Ansätze, die sich noch immer auf auch gegengewaltätige „Befreiungsbewegungen“ und „progressiven Nationalismus“ „unterdrückter Völker“ positiv beziehen noch recht stark. (Analytische) Kritik an den Konstrukten „Volk“ oder „Nation“ oder Kritik an der Gegengewalt von Gegnern der Kriegspolitik der westlichen Regierungen findet sich in diesem Spektrum nicht oder kaum.

Bei diesem „Gegenpopulismus“ gibt es z.B. Kampagnen für die Unterstützung von Slobodan Milosevic oder Hugo Chavez. Auf beide beziehen sich ein Teil des antiimperialistischen Teils der Friedens- und Antikriegsbewegung – bei allen Unterschieden ihrer jeweiligen Politik – als Gegner der US-Dominanzpolitik positiv.

Der grundfalsche Aussage „der Gegner meines Gegners ist mein Freund“ ist hier leider noch häufig vorzufinden.

3. Antimilitaristische Ansätze in der deutschen Friedens- und Antikriegsbewegung

Ansätze grundsätzlicher Militärkritik haben es innerhalb des Gesamtspektrums der Antikriegs- und Friedensbewegung seit dem 11. September schwer. Viele stossen bei ihrer Friedens- und Antikriegsarbeit nicht vor zur Kritik an militärischer Eigendynamik und zu grundlegender Militärkritik.

Die schwere Stellung antimilitaristischer Ansätze innerhalb der deutschen Friedens- und Antikriegsbewegung liegt auch am Auftreten eines Teils dieser Gruppen im Gesamtzusammenhang der Friedens- und Antikriegsbewegung. Aufrufe, in denen nicht explizit die „Abschaffung der Bundeswehr“ gefordert wird, wird von einem Teil dieses Spektrums nicht mitgetragen. Breite Bündnisse („Einheit in der Vielfalt“) mit unterschiedlichen Ansätzen sind aber die Grundvoraussetzung für eine Wirksamkeit der Friedens- und Antikriegsbewegung.

Zentraler Ansatz müsste innerhalb der Friedens- und Antikriegsarbeit sein, von einer konkreten Kritik der Kriegspolitik der Herrschenden ausgehend (in Deutschland Kritik am konkreten Bundeswehreinsatz mit ca. 10.000 Soldaten auf einem Drittel des Globuses) grundlegendere Fragen zu stellen: Militär und Krieg als Herrschaftsinstrument, Krieg als notwendiger Teil der derzeitigen Formation von westlichen Industriegesellschaften (westliche Gesellschaften sind spätestens seit dem 11.09. im permanenten Kriegszustand, sind somit „verdeckte Kriegsgesellschaften“), militärische und zivile Interventionen als zwei Seiten einer kulturimperialistischen Medaille etc.

4. Ausblick

Vor dem 11. September hatten sich einige Koordinaten in Richtung oppositioneller Ansätze bis hin zu systemoppositionellen Ansätzen positiv verschoben. Die Proteste von Genua, die entstehende „Antiglobalisierung“-Bewegung und die Debatte um den Mazedonien-Einsatz „Essential Harvest“ der Bundeswehr (der sogenannte „Waffeneinsammel-Einsatz“) sind dafür nur einige Beispiele. Bei Vortragsveranstaltungen in dieser Zeit stellte ich immer mehr Bereitschaft fest, widerständig gegen herrschende Politik zu sein. Viele Köpfe waren damals (lang ists her!) offen auch für grundlegende Herrschafts- und Kapitalismuskritik.

Nach dem 11. September gab es bei vielen eine kurze oder mittlere Schockstarre, manche drehten aufgrund der Attentate politisch ab. Die „Antiglobalisierung“-Bewegung ging durch den 11.September glücklicherweise nicht kaputt, dort findet durch „attac“ eine Teilinstitutionalisierung statt. Die Friedensbewegung bekam neuen Zulauf, wenn auch lange nicht so viele wie man/frau aufgrund der „epochalen“ Ereignisse, der Kriegsermächtigung und damit dem Kriegseintritt Deutschlands hätte erwarten können.

Nur ein Teil der Friedensbewegung ist explizit antikapitalistisch oder explizit antimilitaristisch. Die Illussionen über rot-grün bröckeln aber enorm innerhalb der Friedensbewegung und so ist die Bereitschaft grundlegendere Kritik an der herrschenden Politik zu üben, gewachsen.

Allerdings erhoffe ich mir ein gegenseitiges Lernen und verstärkte Zusammenarbeit der „Antiglobalisierung“-Bewegung und der Friedensbewegung. Friedensbewegte können z.B. lernen von der Kritik am Einfluß von Geld und Kapital in der Welt, wie sie von der „Antiglobalisierung“-Bewegung artikuliert wird. Und Menschen der „Antiglobalisierung“-Bewegung können lernen von der Friedensbewegung, wenn dort z.B. fundierte Kritik an Militär, Kriegspolitik, Auswirkungen von Kriegspolitik und am Krieg geübt wird.

Andere Oppositionsbewegungen hierzulande müssen begreifen, dass alle anderen Themen ebenfalls auf die Kriegsfrage ausgerichtet werden: Stichworte: Aufrüstung im Innern, Asylpolitik, Antifa, etc. Grundlegende Opposition gegen Kriegspolitik muss das zentrale Thema sein.

In Abwandlung des Spruchs von Willy Brandt gilt für Gerhard Schröder: Krieg ist nicht alles – aber ohne Krieg ist alles nichts. Für die gesamte Opposition muss gelten: Antikriegsarbeit ist nicht alles, aber ohne Antikriegsarbeit ist alles nichts.

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* Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Weitere Informationen zu allen Fragen der Militärpolitik unter: IMI, Hechingerstrasse 203, 72072 Tübingen, Telefon: 07071-49154, Fax: 07071-49159, e-mail: imi@imi-online.de Internet: https://www.imi-online.de (Mit Möglichkeit der Eintragung in die IMI-Mailingliste)

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