Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Ostermarsch in Stuttgart 30.03.2002 – Rede von Claudia Haydt – Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

(Kein) Frieden für den Nahen Osten?

Claudia Haydt (30.03.2002)

In den letzten Wochen und Monaten war nur wenig Ermutigendes aus Israel und den besetzten Gebieten zu hören: Ultimaten für Waffenruhen, Attentate und „Vergeltung“, Vergeltung für die Vergeltung- eine immer schneller eskalierende Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die immer weiter von möglichen Lösungen wegführt.

Mehr als 1600 Tote ca. 1200 Palästinenser und knapp 400 Israelis, viele Kinder zahllose Zivilisten.

Und nun die gezielte Zerschlagung der Autonomiebehörde? Die Ausschaltung Arafats – was auch immer das bedeuten mag?

Der vorgebliche Kampf gegen Terrorismus ist nun im wahrsten Sinne des Wortes zum Totschlag-Argument geworden.

„Wer jetzt noch etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige“

Wer empfindet bezüglich des Nahostkonfliktes nicht oft so, wie es Karl Kraus vor Ausbruch des ersten Weltkrieges formulierte. Es ist doch eigentlich schon alles gesagt, das Unglück nimmt seinen Lauf, der einzig mögliche Protest ist das Schweigen.

Aber dürfen wir wirklich schweigen angesichts der zahllosen Opfer auf beiden Seiten?

„Es wäre ein neues Verbrechen, wenn die deutsche Friedensbewegung still ist und dadurch die israelische Regierungspolitik unterstützt, die direkt in den Abgrund führt. Was wir jetzt brauchen sind Menschen mit Gewissen und mit Mut“
(Beate Zilversmidt, Adam Keller, Uri Avnery; Gush Shalom / Israel)

Es ist heute notwendig, sowohl historische Verantwortung zu zeigen als auch den Mut zu haben die verfehlte israelische Regierungspolitik gegenüber den PalästinenserInnen zu kritisieren.

Mir scheint es wichtig, dass all jene die in Deutschland völlig kritiklos hinter der israelischen Regierungspolitik stehen, darüber nachdenken, ob sie so nicht deutsche Verantwortung auf dem Rücken der PalästinenserInnen „entsorgen“.

Kein Vergeltungsschlag macht auch nur ein Opfer von Selbstmordattentaten wieder lebendig – das Gegenteil ist der Fall – jeder Vergeltungsschlag provoziert wieder neue Attentate.

Kein Selbstmordattentat trägt dazu bei, das israelische Militär zu stoppen – das Gegenteil ist der Fall! Es liefert neue Vorwände für neue Militäreinsätze.

Warum kommen die meisten Selbstmordattentäter aus Flüchtlingslagern?

Wie kann man Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben wegwerfen wollen, mit militärischer Gewalt einschüchtern?

Gegen Menschen deren Haß und Verzweiflung so groß sind, dass sie den Tod herbeisehnen und dabei nur noch den Wunsch haben so viele wie möglich mit in den Tod zu reißen, gibt es nur eine wirksame Verteidigung:

Wir müssen dabei helfen, die Ursachen von Haß und Verzweiflung bekämpfen!

Wir müssen dazu beitragen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, das Recht auf Selbstbestimmung zu erreichen!

Militärische Antworten sind hierbei der denkbar falsche Weg!

Darum:
Stoppt die Gewalt! Auf beiden Seiten!
Stoppt die Bombardierungen!
Stoppt die Besatzung!

Auch Deutschland trägt seinen Teil dazu bei Israel auf dem Weg in die militärische Sackgasse zu begleiten, laut jüngstem Waffenexportbericht, erhält kein Land außerhalb der NATO so große Waffenlieferungen aus Deutschland wie Israel.

Wir fordern einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen in die gesamte Krisenregion!

Es gibt keine Alternative zu einer politischen Lösung!

Arafat mag kein optimaler Gesprächspartner sein – aber er ist der einzige den Israel hat, er ist demokratisch gewählt, ist bereit zu verhandeln und ob nach ihm ein moderaterer Präsident an die Macht kommt – das darf zumindest im Moment bezweifelt werden.

Es wird die Situation noch sehr viel mehr eskalieren, wenn das israelische Militär Arafat tötet oder ihn auf andere Weise handlungsunfähig macht.

Die Gewalt muß enden, aber die Forderung nach einer Waffenruhe vor Gesprächen ist unsinnig. Diese Forderung gibt wenigen Extremisten die Definitionsgewalt über den gesamten Konflikt.

Wer eine Waffenruhe vor Gesprächen fordert, will keine Gespräche…

Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen

Die direkte Gewalt muß enden – auf beiden Seiten. Aber das genügt bei weitem nicht. Auch die strukturellen Gewalt muß beendet werden.

Ohne ein Ende der Absperrungen, der Belagerung, der Ausgangssperren, der allnächtlichen (Kollektiv-) Bombardierungen palästinensischer Siedlungen durch israelisches Militär und ohne ein Ende der Sonderrechte für israelische Siedler im besetzten Gebiet z.B. bei der Straßennutzung, der Wassernutzung und der Landnahme geben – ohne ein Ende dieser Formen von Gewalt wird es keinen Frieden geben.

Die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten ist sicher einer der Haupthindernisse für eine friedliche Zukunft!

Wenn neben staubigen Flüchtlingslagern, Reihenhaussiedlungen mit grünen Vorgärten und Swimmingpool entstehen und die Bewohner dieser Siedlungen auf eigenen Straßen fahren, während die palästinensische Bevölkerung auf Umwegen und zu Fuß mit schweren Lasten bepackt ihr Ziel erreichen muß, dann sind Spannungen kaum zu vermeiden.

Obwohl es Besatzungsmächten verboten ist, ihre Bevölkerung in besetztes Gebiet zu transferieren und obwohl in Oslo eine Friedenslösung vereinbart war, verdoppelten sich die Siedlungen in den letzten zehn Jahren. Und trotz Tennet- und Mitchell Plan sind in den letzten Monaten 34 neue Siedlungen entstanden.

So wird strukturelle Gewalt im wahrsten Sinne des Wortes zementiert und eine friedliche Zukunft sabotiert.

Wenn Militär kollektiv eine ganze Bevölkerung bestraft, wenn es durch außergerichtliche Liquidierungen Völkerrecht bricht und Lynchjustiz übt, wenn es Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser zerstört, dann muß diese Militär und seine politische Führung sich fragen lassen, ob nicht auch dies terroristische Mittel sind..

Gewalt ist eine Sackgasse!
Terrorismus und Staatsterrorismus sind eine Sackgasse!

Viele israelische Soldaten haben für sich erkannt, dass es keine moralisch vertretbare Möglichkeit gibt, die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens aufrechtzuerhalten.

„Wie sollen wir in einer Armee unseren Dienst leisten, die Häuser zerstört, den Kranken keine medizinische Versorgung zugesteht, die danach strebt, eine ganze Bevölkerung zu demütigen, die Hunger und Armut verursacht?“ so Yishai Rosen-Zvi (orthodoxer Sergeant einer Panzereinheit und Mitunterzeichner des Appells von Reserve-Offizieren gegen den Dienst in den besetzten Gebieten)

Auch blinde Solidarität und Verherrlichung der palästinensischen Intifada – mit allen Auswüchsen wie dem fatalen Märtyrerkult und dem Machismus der Gewalt – ist gefährliche Revolutionsromantik und zutiefst unpolitisch.

Notwendig ist die Stärkung des politischen Widerstands der palästinensischen Seite gegen die Besatzungspolitik Israels – und es gibt diesen Widerstand – er ist wesentlich stärker als unsere durch Medienbilder verzerrte Wahrnehmung glauben macht!

Die Hoffung liegt auch bei der wieder stärker werdenden israelischen Friedensbewegung.

Auch heute wird es wieder ein große Demonstration geben, die das Ende der Besatzungspolitik forderten. Und die Hoffung liegt darin, daß immer mehr israelische Soldatinnen und Soldaten die brutale Besatzungspolitik nicht mehr mitmachen und den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert.
„Wir, die wir verstehen, daß der Preis der Besetzung der Verlust des Menschlichkeit und die Zerrüttung der ganzen israelischen Gesellschaft bedeutet,
– wir, die wir wissen dass die besetzten Gebiete nicht zu Israel gehören, und dass alle Siedlung am Ende geräumt werden müssen.
– wir erklären hiermit, dass wir in diesem Siedlungskrieg nicht mehr kämpfen werden.“

Es wird keine Lösung geben, die nicht auf beiden Seiten der emotionalen Lage UND der realen Lebenssituationen Rechnung trägt.

Es gibt im Nahen Osten so etwas wie eine doppelte Traumatisierung:
– das Holocaust Trauma der jüdischen Bevölkerung mit dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Sicherheit, und mit der Angst davor einer Bedrohung schutzlos ausgeliefert zu sein
und
– es gibt bei der palästinensischen Bevölkerung ein Flüchtlingstrauma und dem daraus entstandenen Bedürfnis nach Heimat und Selbstbestimmung.

Ohne eine Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben für beide Seiten wird es keinen Frieden geben!

Und es gibt diese Lösung:

Kronprinz Abdullah hat sie skizziert:
Anerkennung und Sicherheitsgarantien für Israel. Einen Staat für die Palästinenser auf den 1967 von Israel besetzten Gebieten.

„Dieser Frieden wird zustande kommen – weil die einzige Alternative für beide Seiten die Hölle bedeutet“ (Uri Avnery)

Eine Friedenslösung ist zu Greifen nah
und
die totale Eskalation ist zum Greifen nah.

Laßt uns in dieser Situation nicht Schweigen!
Stoppt diesen Krieg!
Stoppt die Gewalt!
Stoppt die Besatzung!

Zum Download: http://imi-online.de/download/OM-CH-Stutt.pdf

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