NPR und US-Nuklearpolitik: Sprengstoff für die NATO?

IMI-Analyse 2002/19

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. März 2002

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Nachdem Anfang März klassifizierte Teil des Nuclear Posture Review (NPR) der Bush-Administration an die Öffentlichkeit gerieten, boten diese einen erschreckenden Einblick in die Planungen der US-Regierung, was die künftige Funktion und den „praktischen“ Nutzen ihres Atomwaffenarsenals anbelangt. „Die Überprüfung macht,“ wie Jim Hoagland, Journalist der Washington Post, feststellt, „eine klare Wende des Bush-Teams hin zu einer Präventivschlagsstrategie deutlich, inklusive, wenn nötig, Nuklearwaffen.“
Der vom Kongress in Auftrag gegebene und vom Pentagon erarbeitete Report enthält gleich mehrere brisante Inhalte:

1. Werden China und Russland weiterhin als mögliche Ziele eines US-Atomangriffes ausgewiesen.
2. Behalten sich die USA die Möglichkeit vor, auch gegen Nicht-Nuklearstaaten als Vergeltung für einen Angriff mit chemischen oder biologischen Kampfstoffen, Atomwaffen einzusetzen. Formal gaben die Vereinigten Staaten zuletzt 1995 die Zusage solche Angriffe nicht zu unternehmen.
3. Visiert Washington die präventive Vernichtung feindlicher Lager- oder Produktionsstätten für Massenvernichtungsmittel an (als Ziele hierfür gelten neben Russland und China insbesondere auch noch die Nicht-Atomwaffenstaaten Irak, Iran, Libyen, Syrien und Nordkorea).

Da dies mit konventionellen Waffen nicht zu erreichen ist, fordert der NPR, dass „Nuklearwaffen gegen Ziele eingesetzt werden könnten, die in der Lage sind nicht-nuklearen Angriffen zu widerstehen.“ Bisher können tief-verbunkerte Lager- oder Produktionsstätten nur mit Atomwaffen zerstört werden, wenn man bereit wäre, erhebliche „Kollateralschäden“ in Kauf zu nehmen.

Deshalb wird im NPR gleichzeitig grünes Licht für die Entwicklung schadensminimierender, zielgenauer Atomwaffen gegeben, die für solche nukleare Präventivschläge einsetzbar wären, „ohne dabei ganz Bagdad anzuzünden,“ wie es ein Offizieller formulierte.
Am Ende dieser Überlegungen könnte dann bei dem bloßen Versuch eines Landes, Massenvernichtungsmittel zu entwickeln, ein nuklearer Erstschlag der USA, zur Zerstörung der Produktionskapazitäten, erfolgen.
In Europa wurde nicht mit Kritik an den Plänen der Bush-Administration gespart. Am drastischsten äußerte sich hierzu die britische Labour-Abgeordnete Alice Mahon:

„Die Wahnsinnigen haben im Weißen Haus die Kontrolle übernommen. Nach diesem Bericht müssen in der ganzen NATO die Alarmglocken läuten.“

In der Tat, denn aus jüngsten Äußerungen geht hervor, dass Washington bereit zu sein scheint, die Zukunft der NATO in Frage zu stellen, falls sich diese nicht bedingungslos hinter die Bush-Strategie im „Kampf gegen den Terror“, sowie der anvisierten Non-Proliferations-Politik mittels atomarer Präventivschläge stellt.

Zwei Reden des republikanischen Senators Richard G. Lugar, die er in Absprache mit dem US-Präsidenten hielt, sind in diesem Zusammenhang besonders brisant. Im Dezember formulierte er die nach ihm benannte Lugar-Doktrin. Sie besagt, dass „die Vereinigten Staaten – ohne jeden Zweifel – ihre komplette militärische, diplomatische und ökonomische Macht einsetzen werden, um sicherzustellen, dass die lebensgefährlichen Massenvernichtungsmittel überall erfasst, eingedämmt und hoffentlich zerstört werden.“
In seiner state of the union Rede vom 29. Januar zog Bush nach und machte die Bedeutung des „Kampfes gegen die Proliferation“ unmissverständlich deutlich:

„Wir müssen verhindern, dass Terroristen und Regime, die chemische, biologische oder nukleare Waffen erlangen wollen die Vereinigten Staaten und die Welt bedrohen. […] Sie könnten eine amerikanische Stadt oder unsere Alliierten bedrohen, oder versuchen die Vereinigten Staaten zu erpressen. In jedem dieser Fälle, wäre der Preis einer Gleichgültigkeit katastrophal.“
Dies kann man Washington nun wahrlich nicht vorwerfen, denn die neuesten Pläne deuten an, dass zukünftig allein schon der Versuch, an Massenvernichtungsmittel zu gelangen eine Erpressung der USA darstellt. Der Grund für die hohe Aufmerksamkeit, die dem Thema Proliferation gezollt wird, liegt aber nicht primär in der möglichen Weitergabe gefährlicher Materialien an Terroristen, sondern – was auch in Washington kaum bestritten wird – im Bestreben der „Schurkenstaaten“ mittels nuklearer, vor allem aber chemischer und biologischer Kampfstoffe die einzige Weltmacht von einem Angriff auf das eigene Land abhalten zu wollen. Solche Versuche können natürlich nicht gleichgültig hingenommen werden, da dies die rigorose Wahrnehmung amerikanischer Interessen extrem beeinträchtigen würde: „Diktatoren, die […] Massenvernichtungs-Waffen bauen, sind unterrichtet, dass ein solches Verhalten, schon für sich selbst, ein Kriegsgrund ist,“ wie Senator John McCain verdeutlichte.

Offensichtlich sind die USA in diesem Kontext auch zum präventiven Einsatz von Atomwaffen bereit.
Zum endgültigen Sprengstoff für die NATO wird das Thema, wenn man sich die Inhalte der am 17. Februar gehaltenen zweiten Rede Lugars genauer betrachtet. Der nicht zu den Hardlinern zählende Lugar gilt als vehementer Befürworter einer engen trans-atlantischen Bindung. Somit sind seine Aussagen als Warnung zu sehen, dass deutliche Wahrnehmungsunterschiede auf beiden Seiten des Atlantiks zu einer Spaltung des Bündnisses führen könnten.

Sein Ziel dürfte gewesen sein, drastisch die Position der US-Regierung in dieser Frage zu verdeutlichen, die europäischen Verbündeten von diesen Unstimmigkeiten in Kenntnis zu setzen und von ihnen mehr Unterstützung für die US-Politik einzufordern – alles zum Wohle der Allianz natürlich.

Wenn dies die Intention seiner Rede war, zeugt deren Inhalt von kaum mehr zu beschreibenden Wahrnehmungsunterschieden, die mehr als nur einen kurzfristigen Riss innerhalb der NATO verursachen könnten. Lugar forderte in seiner Rede die NATO zu einer Beteiligung an den US-Bestrebungen auf, die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu verhindern.
Hierfür „sollten die NATO-Länder darauf vorbereitet sein, sich den USA anzuschließen, Gewalt, ebenso wie alle diplomatischen und ökonomischen Mittel die ihnen kollektiv zu Verfügung stehen zu benutzen. […] Die Anwendung von militärischer Gewalt könnte einen Krieg gegen einen weit von Europa oder Nordamerika entfernten Nationalstaat bedeuten. […] Alte Unterscheidungen zwischen ‚in‘ und ‚out of area‘ sind zunehmend bedeutungslos geworden. In der Tat, aufgrund der globalen Natur des Terrorismus sind Beschränkungen und andere geographische Unterscheidungen ohne Bedeutung. […] Aber falls die NATO nicht dabei hilft, die drängendste Sicherheitsbedrohung für unsere Länder anzugehen […] wird sie aufhören die wichtigste Allianz zu sein, die sie immer war und zunehmend marginalisiert werden.“

Lugar macht sich offensichtlich ernsthafte Sorgen um die Zukunft des Bündnisses: „Wenn die NATO die Herausforderung effektiv im Kampf gegen den Terrorismus zu sein nicht erfüllt, dann könnten sich unsere politischen Führer dazu veranlasst sehen, sich nach etwas anderem umzusehen, das ihre Bedürfnisse erfüllt.“

Dies ist in der Tat Sprengstoff für die NATO.

Die Aussagen Lugars, der schon Anfang der 90er mit seinem Satz „out of area or out of business“ die Diskussion um die räumliche Beschränktheit der NATO anstieß, sind hier als deutliche Warnung an die europäischen Staaten zu verstehen.
Zwar liegt Lugars Schwerpunkt auf eher nicht-militärischen Programmen zur Bekämpfung der Proliferation, da aber die Anwendung von Gewalt – in Verbindung mit dem NPR auch atomarer Art – als integraler Bestandteil der Nichtverbreitungspolitik gesehen wird, ist dies mehr als bedenklich. Die Europäer werden sich in absehbarer Zeit in beiden angedeuteten Fällen entscheiden müssen.
Erstens, gibt man die räumliche Beschränktheit der NATO – möglicherweise schon in Kürze bei einem US-Angriff auf den Irak – gänzlich auf und unterstützt die USA vorbehaltlos bei ihrer aggressiven Politik? Jüngste Aussagen der Bundesregierung aber auch Englands – in Frankreich ist man zurückhaltender – deuten darauf hin. Die Signale der US-Regierung sind eindeutig. Entweder der Irak wird mit Hilfe der NATO-Länder angegriffen, oder eben im Alleingang.

Dies wäre die Umsetzung der angedrohten Marginalisierung des Bündnissen, falls es sich nicht den US-Plänen beugt. Einspruch unerwünscht.

Zweitens ist man bereit die US-Nuklearstrategie, die, bei deren voller Implementierung (Entwicklung entsprechender Waffensysteme etc.) atomare Präventivschläge als legitimes Mittel der Non-Proliferation akzeptiert, zu übernehmen.

Die USA scheinen die Europäer zu einer folgenschweren Wahl zwingen zu wollen. Aktuell verfügen sechs NATO-Staaten, darunter auch Deutschland, über Flugzeuge, die zum Abwurf von US-Atomwaffen in der Lage wären. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe könnten die USA in absehbarer Zukunft einen gemeinsamen Einsatz, nach Kriterien der neuen US-Nukleardoktrin fordern. „Aus amerikanischer Sicht kann die Frage nur lauten: Macht Europa mit, wenn die USA nichtstaatliche Akteure, die nach Massenvernichtungsmitteln streben, mit Krieg überziehen – notfalls mit Atomwaffen?“, stellt Otfried Nassauer vom Berliner Institut für Transatlantische Sicherheit fest.
Die Amerikaner dürften mit einiger Sicherheit auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 6./7. Juni in Brüssel eine positive Antwort auf diese Frage erwarten. Dort soll über die Zukunft der NATO-Nuklearpolitik beraten werden.

Für Europa, insbesondere auch die Bundesregierung, stellt sich im Gegenzug nun die Frage: Hält man an der bisherigen Politik fest, die zumindest offiziell dem Zweck dienen sollte, durch eine Unterstützung der USA im „Kampf gegen den Terrorismus,“ Washington an der ungehemmter Gewaltausübung hindern zu wollen? Dies insbesondere nachdem die letzten Monate gezeigt haben, dass die Vereinigten Staaten mehr denn je auf unilaterale Macht- und Gewaltanwendung setzen?

Angesichts der neuen Pläne der US-Regierung müssen in der Tat die „Alarmglocken läuten.“ Zwar ist augenblicklich keineswegs sicher, dass die US-Nuklearpolitik genau den im NPR angedachten Weg einschlägt, er stellt aber trotzdem den ersten Schritt für die Etablierung von Atomwaffen als einsetzbare Kriegmittel dar und befindet sich in völliger Übereinstimmung mit den strategischen Präferenzen der Bush-Administration.

Die US-Regierung scheint zu ahnen, dass diese Pläne auf Widerstand stoßen könnten und erinnert die Europäer an ihren Vasallenstatus. Ein Einschwenken auf die neue Eskalationspolitik der US-Regierung, würde in fundamentalem Widerspruch zu den langjährig formulierten Zielen europäischer und auch deutscher Außenpolitik stehen.

Falls Washington an seinen Plänen atomare Präventivschläge durchzuführen, festhalten sollte, oder gar, wie es den Anschein hat, von den NATO-Staaten eine Übernahme ihrer Nukleardoktrin fordern, muss den USA Einhalt geboten werden, will man nicht seine, zumindest offiziell propagierten Ziele bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln.

Erste beunruhigende Anzeichen hierfür lassen sich bereits erkennen. Vor kurzem erklärte der britische Außenminister Geoff Hoon: „Es gibt sicher Staaten, die abgeschreckt werden können. […] Bei besorgniserregenden Staaten bin ich mir dabei viel weniger sicher. Sie können auf alle Fälle davon ausgehen, das wir unter den richtigen Umständen dazu bereit sein werden unsere Nuklearwaffen zu benützen.“

Damit verletzt Großbritannien ebenfalls die als „negative Sicherheitsgarantie“ bezeichnete zuletzt 1998 erneuerte Zusage, keine Atomwaffen gegen Nicht-Nuklearstaaten einzusetzen.

Falls Washington an seinen Plänen – atomare Präventivschläge durchzuführen – festhalten sollte oder gar, wie es den Anschein hat, von den NATO-Staaten eine Übernahme ihrer Nukleardoktrin fordern, muss den USA Einhalt geboten werden, will man nicht seine, zumindest offiziell propagierten Ziele bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln.

Hat man dazu den politischen Willen und wenn ja auch das Rückgrat, dafür einen Bruch mit Washington zu riskieren? Oder will man vielmehr weiterhin als Steigbügelhalter der USA seinerseits ein Stück vom Kuchen abbekommen?

Möglich ist auch, dass Deutschland-Europa die Gelegenheit ergreift – Stichworte sind hier die neue EU-Eingreiftruppe und das Galileo-Satellitensystem – um die militärischen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Vereinigten Staaten zu intensivieren. Ziel hierbei wäre es, künftig die eigenen Interessen ebenfalls mit Gewalt, im Notfall auch gegen die USA, durchzusetzen und damit in eine offene Konkurrenz mit Washington zu treten.

Unter diesen Gesichtspunkten wird in den nächsten Monaten genau zu beobachten sein, wie sich die Bundesregierung, aber auch andere europäische NATO-Staaten, in diesem Zusammenhang verhalten.

Jürgen Wagner ist im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.