Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Die zunehmende Militarisierung Europas

(11.01.2001)

Vortrag von Tobias Pflüger auf dem bundesweiten Friedensratschlag 2000 in Kassel

von Tobias Pflüger (IMI – Informationsstelle Militarisierung, Tübingen)

Die EU-Militarisierung soll im Folgenden im Zusammenhang mit zwei weiteren Themen betrachtet werden: Zum einen die Entwicklung der Bundeswehr und zum zweiten die Entwicklung der NATO. Auf der sogenannten Geberkonferenz der Europäischen Union am 20. November wurde etwas ganz Spezielles geboten, nämlich Soldaten. Soldaten für eine zukünftige Interventionstruppe der Europäischen Union, die derzeit einen Umfang von 60.000 Mann und Frau hat (zur Aufteilung der Soldaten auf die einzelnen Länder siehe Tabelle). Da zu wurden über 100.000 Soldat/inn/en von den EU-Staaten und (osteuropäischen) EU-Beitrittskandidaten zur Verfügung gestellt. Von besonderem Interesse bei dieser EU-Truppe ist, dass es keine eigenständige Truppe ist, sondern das sie jedes mal für entsprech ende Interventionen zusammengestellt werden wird.

Der Anteil der Bundesrepublik an dieser EU-Interventionstruppe übersteigt die Kontingente von allen anderen Staaten: Mit ca. 18.000 Mann stellt die Bundesrepublik ca. 20% der gesamten Truppe. Der deutsche E influß auf diese Truppe drückt sich nicht nur durch den hohen Anteil aus, sondern auch durch die Nominierung des deutschen Generals Rainer Schuhwirth zum Befehlshaber dieser Interventionstruppe. Man kann also durchaus die Schlußfolgerung ziehen, das die zu künftige EU-Interventionstruppe eine Truppe ist, die unter maßgeblichem deutschem Einfluß steht. Eine zweite Festlegung, die auf der genannten Geberkonferenz beschlossen wurde, ist der Aktionsradius für den Einsatz der künftigen EU-Truppe. Danach soll die Truppe in einem Radius von 4.000 km (!) rund um die Europäische Union eingesetzt werden. Die „Welt“ schreibt hierzu, dass die Europäische Union „eine neue Superarmee für schwer bewaffnete Militäreinsätze in einem Radius von 4.000 km um Brüssel. Das schließ t weite Teile Afrikas, den Nahen Osten und den Kaukasus ein.“

Warum eine eigenständige EU-Interventionstruppe?

Im Verlauf des völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien im März 1999 ist deutlich geworden, dass bei militärischen Interventionen oder Kriegseinsätzen immer auf bestimmtes US-Equipment zurückgegriffen werden musste, so z.B. bei Satelliten. Um sich militärpolitisch selbständiger zu machen, wurde unter dem neuen Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, beschlossen ein eigenes deutsches Satellitenprogramm zu starten. Derartige Projekte müssen in Zusammenahng mit der allgemeinen Entwicklung betrachtet werden: Bundesaußenminister Joschka Fischer sprach einmal davon, dass nach der Wirtschafts- und Währungsunion der nächste große Schritt die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sein müsste. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel innerhalb der Europäischen Union statt, denn die Europäische Union war bisher eine Wirtschaftsgemeinschaft und zukünftig soll sie zunehmend eine Militärmacht werden. Diese Umorientierung stellt eine Militarisierung Europas dar, eine Militarisierung, die unter Führung der Bundesrepublik stattfindet. Joschka Fischer hat diesen Prozeß in seiner Rede an der Berliner Humboldt-Universität als eine Entwicklung vom Staatenverbund zur Föderation beschrieben. Für ihn ist es notwendig, dass es dabei ein „Gravitationszentrum“ innerhalb der Europäischen Union gibt, welches die Avantgarde, „die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration“, darstellt und „bereits alle Elemente der späteren Föderation“ umfasst. Letztendlich ist dies nichts anderes als das 19 94 von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers formulierte Kerneuropa – quasi ein Kerneuropa in grün nur deutlich militärischer.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr

Die Zunehmende Militarisierung der Europäischen Union steht im Einklang mit der Umrüstung bzw. der Neuausrichtung der Bundeswehr. Auf der einen Seite sind die Entwicklungen bei der Bundeswehr durch eine quantitative Abrüstung gekennzeichnet, die sich vor a llem durch die Reduzierung des Personalumfangs ergibt. Doch dies ist keine richtige Abrüstung, denn de facto findet eine gewaltige Umstrukturierung innerhalb der Bundeswehr statt. Die früheren Krisenreaktionskräfte, die damals etwa 53.600 Mann umfassten, nach dem grundgesetzwidrigen Krieg gegen Jugoslawien auf ca. 60.000 aufgestockt wurden, sollen nach der Grobausplanung des Bundesverteidigungsministeriums auf eine Gesamtgröße von etwa 150.000 Mann und Frau anwachsen. Damit werden genau jene Kräfte, mit denen künftige Kriege geführt werden können, auf das Dreifache aufgestockt. Es findet also eine qualitative Aufrüstung der Bundeswehr statt, die eine Neuausrichtung auf Angriffs- und Interventionskriege, wie es das Beispiel gegen Jugoslawien gezeigt hat, impliziert. Dies ist auch die Kernfrage der zukünftigen deutschen Militärpolitik und nicht die Wehrpflicht. Obwohl meines Erachtens die Wehrpflicht ein wesentlicher Aspekt bei der Frage nach dem Einfluss der Bundeswehr innerhalb der EU-Truppe darstellt. Mein Verdacht ist, dass mit der Masse an Armee auch ganz bewußt Politik gemacht wird, auf diesem Weg „untermauert den Anspruch der Bundesrepublik, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu prägen“ (FAZ).

Die rot-grüne Bundesregierung hat, entsprechend der Koalitionsvereinbarungvom Oktober 1998, eine Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eingesetzt. Eine Grund voraussetzung um in diese Kommission zu kommen war die grundsätzliche Akzeptanz der neuen Bundeswehr und der neuen NATO. Es war also unmöglich für diejenigen, die militärkritische oder antimilitaristische Positionen vertreten, in die Kommission zu kommen. Darüber hinaus war diese Kommission keine Parlamentskommission sondern eine Regierungskommission, d. h. es war auch nicht möglich, dass auf parlamentarischem Weg, z. B. über die PDS, kritische Positionen in die Kommission gelangen konnten. Wenn man sich da nn noch die Liste der Gäste, die von der Kommission angehört wurden, anschaut, wird klar, dass hier nur auf ein ganz bestimmtes Spektrum zurückgegriffen wurde. Parallel zu der Kommission wurde innerhalb des Militärs ein Papier erarbeitet, das Kirchbach-Papier, versehen mit der Vorgabe, es muss bei der Wehrpflicht bleiben und gleichzeitig eine Ausrichtung in Richtung Interventionsarmee vorgenommen werden. Als die das Krichbach-Papiere und der Kommissionsbericht vorlagen sollte eigentlich eine öffentliche Debatte über die Bundeswehr geführt werden. Doch bereits nach eineinhalb Wochen hat Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping das verbindliche Eckpunkte-Papier vorgelegt und verkürzte die Auseinandersetzung über die zukünftigen Aufgaben und die Ausrichtung der Bundeswehr auf sage und schreibe eineinhalb Wochen.

In dem Bericht der Weizsäcker-Kommission heisst es: „Die Aufgaben der Bundeswehr haben sich völlig geändert. Die Bundeswehr wird vornehmlich außerhalb Deutschlands eingesetzt werden, entweder zur kollektiven Verteidigung eines Bündnispartners, oder was wahrscheinlicher ist, zu regional begrenzten Einsätzen der Krisenvorsorge und Krisenbewältigung.“ In den Schlussfolderungen ist dann unter anderem zu lesen: „Die Kommission empfiehlt Fähigkeiten, Strukturen und Umfänge der Bundeswehr primär aus der Eignung zu Kriseneinsätzen abzuleiten. Die Orientierung auf Kriseneinsätze erfordert eine grundsätzlich neue Bundeswehr.“ Diese Formulierungen machen deutlich, der Mythos einer Armee zur Landesverteidigung hat sich erledigt, es geht hauptsächlich um Interventionseinsätze oder Besatzungseinsätze in anderen Ländern. Ein Bruch des bestehenden Grundgesetzes, welches einen defensiven Charakter vorschreibt, wird dabei in Kauf genommen. Die militärische Neuausrichtung wird im Kirchbach-Papier auf den Punkt gebracht, dort heißt es: „Streitkräfte werden sich in Zukunft auf ihre militärischen Kernfunktionen konzentrieren.“ Was sind militärische Kernfunktionen, was kann nur Militär?

Bundespräsident Johannes Rau hat auf der Kommandeurstagung bemängelt, dass die Bundeswehr im Einsatz zu viele zivile Aufgaben übernimmt. Auf der anderen Seite werden gerade die nichtmilitärischen Aufgaben der Bundeswehr immer wieder gerühmt, so z. B. von d em ehemaligen KFOR-Kommandanten Klaus Reinhardt. Wie soll in Zukunft die Bundeswehr „verkauft“ werden, wenn sie sich auf ihre militärischen Kernfunktionen konzentriert? Wenn nichtmilitärische Aufgaben wegfallen, fallen gleichzeitig die Akzeptanzbereiche we g, die bisher immer eine Legitimation für die Bundeswehr waren. Die militärischen Kernfunktionen heißen dann: Kämpfen, Krieg führen, Töten.

Die NATO wird zum Interventionsbündnis

Die Neuausrichtung der Bundeswehr steht in einem engen Kontext mit den Entwicklungsprozessen innerhalb der NATO. Die NATO hat am 24. April letzten Jahres eine neue Strategie verabschiedet, wonach sich die NATO für zukünftige Militäreinsätze selbst ein Mand at gibt, die sogenannte Selbstmandatierung. In dem NATO-Strategiepapier heißt es hierzu: „In diesem Zusammenhang erinnert das Bündnis an seine späteren Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan.“ Diese Formulierung beinhaltet einen Vor ratsbeschluss und gibt gleichzeitig einen Hinweis darauf, das der Krieg gegen Jugoslawien ein Muster für zukünftige Kriege darstellt. In Jugoslawien hat man einen Testlauf durchgeführt, man hat dort die zukünftige NATO-Strategie vor deren Verabschiedung ge testet. Daher muss man mit dem Mythos aufräumen, dass der Krieg gegen Jugoslawien eine einmalige Ausnahme war. Nein, er war der erste Krieg eines neuen Kriegstypus, nämlich des Kriegstypus der neuen NATO.

Ein weiterer wesentlicher Punkt an der neuen NATO-Strategie ist die Festlegung auf sogenannte nicht Artikel 5 Krisenreaktionseinsätze. Artikel 5 bezoeht sich auf das NATO-Statut und besagt, dass ein Angriff auf ein Land der NATO als ein Angriff auf das ges amte NATO-Bündnis verstanden wird. Wenn nun nicht Artikel 5 Krisenreaktionseinsätze geplant werden, so heißt dies nichts anderes als Angiffskriege.

Der dritte Punkt ist die Herausbildung kleiner, kampforientierter Truppen, Vorboten in Deutschland sind die Elitekampftruppe Kommando Spezialkräfte (KSK) und die neue Divion Spezialoperationen (DSO).

Schlussfolgerungen für die Friedensbewegung

Die Friedensbewegung muss dieser zunehmenden Militarisierung entschieden entgegen treten. Unser Nein muss dem weiteren Ausbau der Kriegsführungsfähigkeit gelten und beinhaltet eine klare Absage an den Ausbau der Interventionsfähigkeit. Denn wenn die militä rischen Instrumentarien einmal vorhanden sind, dann ist es nur eine Frage der Zeit wann sie eingesetzt werden.

Die hier skizzierte Militarisierung und der damit verbundene Paradigmenwechsel wird in der Bevölkerung nur marginal wahrgenommen. Die Aufgabe der Friedensbewegung muss daher sein, immer wieder auf diese Sachverhalte aufmerksam zu machen und sie in die öffe ntliche Debatte zu bringen.

Ich schlage folgendes Vorgehen vor: Wir müssen sowohl erste nachvollziehbare Schritte, als auch unsere Ziele klar formulieren. Mit diesem Schritt/Ziel-Vorgehen erreichen wir viele Menschen, können Bündnispartner gewinnen und sagen zugleichwohin unser Weg sc hlußendlich gehen soll. Konkret bedeutet dies, daß wir zuerst die Ablehnung der neuen NATO- Strategie fordern könnten, Zielforderung ist hier die Auflösung des „Unsicherheitsbündnisses“ NATO. Bzgl.Bundeswehr könnte der erste Schritt die Auflösung der (krie gsfähigen) Einsatzkäfte sein. Ziel ist hier die Auflösung der Bundeswehr. Unser NEIN gilt zunächst der weiteren Militarisierung, dazu zählt die völkerrechtswidrige NATO-Strategie,genauso wie der Aufbau der EU-Interventionstruppe und die Umwandlung der Bundeswehr zur Interventionsarmee. Uns muss es darumgehen, dass wir die öffentliche Auseinandersetzung über die zukünftige Militärpolitik wach halten. Ein Ansatz dazu könnte hierzu der von IMI initiierte Aufruf „Kriege verhindern, deshalb jetzt Einsatzkräfte auflösen“ sein.

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Dies ist der Vortrag von Tobias Pflüger auf dem bundesweitenFriedensratschlag in Kassel in der von von Bernd Guß (Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt a.M.) bearbeiteten Version. Der Artikel wurde abgedruckt in der „Friedenspolitischen Korrespondenz“ Nummer 4, Dezember 2000.

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